Schluss mit dem Größen-Dogma: Das fordert die Hamburger Aktivistin und Autorin Melodie Michelberger. Im Interview spricht sie über falsche Schönheitsideale, Fettfeindlichkeit und deutsche Innenstädte, in denen nur noch Klamotten für Dünne hängen.Frau Michelberger, die Modewelt rühmt sich gern damit, endlich diverser geworden zu sein. Auf den Laufstegen soll es mehr Models unterschiedlicher Hautfarbe geben, ebenso mehr Mode für große Größen. Erleben wir endlich einen Wandel?
Ich wünschte, es wäre so. Leider ist von der viel gefeierten Diversität nicht mehr viel übrig. Vor ein paar Jahren war es total angesagt, auch kurvige Frauen in Werbekampagnen oder auf Laufstegen zu zeigen, was Models wie Ashley Graham und Paloma Elsesser weltweit berühmt machte. Leider sah man Plus Size und auch von BIPoC-Models in letzter Zeit immer seltener. Bei den Schauen für den Sommer 2024 hatten laut einer Analyse der Zeitschrift Vogue Business weniger als ein Prozent der Laufstegmodels eine Plus Size-Figur. Das heißt 99 Prozent tragen nach wie vor eine sehr kleine Kleidergröße. Welche Gesellschaft soll das repräsentieren?Wie divers geht es in deutschen Einkaufsstraßen zu?
Auch da hat sich leider kaum etwas verändert. Die große Vielfalt, die wir sehen, wenn wir uns auf eine Bank in der Innenstadt setzen und die vorbeilaufenden Menschen beobachten, spiegelt sich noch immer nicht in den angebotenen Konfektionsgrößen wider. Da ist bei Damen alles ab einer Größe 44 nach wie vor Mangelware. Auch die Models in den großen Werbekampagnen sind weiterhin hauptsächlich weiß, sehr jung und sehr dünn. Viele Marken haben zudem ihr XXL-Sortiment aus den Läden verbannt und bieten es nur noch online an. So wird es Menschen ab einer bestimmten Konfektionsgröße wirklich schwer gemacht, passende Bekleidung zu finden.Was steckt Ihrer Meinung nach dahinter?
Viele Marken argumentierten, die Mode verkaufe sich online besser, im Laden nehme sie zu viel Fläche ein. Das ist nur schwer nachvollziehbar. Immerhin haben Anbieter wie H&M riesige Flagship-Stores. Da drängt sich der Eindruck auf, dass in manchen Geschäften keine dickeren Kunden erwünscht sind. Sie meinen, Kunden mit großer Größe werden bewusst ausgegrenzt?
Ja, das ist für mich die einzige Erklärung. Dicke Menschen sind unerwünscht, sie werden von Modefirmen bewusst ausgegrenzt. Fettfeindlichkeit ist allgegenwärtig. Das spricht natürlich niemand aus. Deshalb schiebt man lieber fadenscheinige Gründe vor, wie etwa mangelnde Nachfrage oder den zu großen Aufwand beim Produzieren. Warum sind diese Gründe fadenscheinig?
Schaut man sich in anderen Ländern um, stößt man auf Marken, denen es gelingt, das gleiche Kleid in XXS herzustellen wie auch in 4XL. Ihr Größenspektrum endet nicht bei XL oder der Konfektionsgröße 44. Marken wie Ganni aus Dänemark, Rixo aus Großbritannien und Mara Hoffman aus den USA verzichten auf Sonderlinien mit unförmigen Zelten, die irgendwo separiert in einer Nische hängen. Sie machen einfach coole Mode für jede Größe.Der Größenspiegel vieler Modeanbieter endet meist bei 44. Doch genau das ist die Durchschnittsgröße deutscher Frauen. Warum wird diese Marktlücke seit Jahren ignoriert?
Ich verstehe es selbst nicht. Die Modeindustrie produziert an der Realität vorbei. Die Laufstege mögen dünne Models dominieren, aber unsere Gesellschaft sieht anders aus. Ich selbst trage Größe 44/46. Auch wenn es manche überrascht: Es ist das Standardmaß in Deutschland. Ich gehöre zum Durchschnitt – doch die Modewelt stempelt mich als Sonderfall ab. Melodie Michelberger, 47, ist ist Körperaktivistin, Influencerin und Autorin. Ihr Buch “Body Politics” erschien 2021 im Rowohlt Verlag. Sie engagiert sich gegen Ungerechtigkeit und für mehr Vielfalt, u.a. bei Instagram. Sie lebt mit ihrem Sohn in Hamburg
© Melina MörsdorfWann sind Sie das letzte Mal durch die Einkaufsstraße Ihrer Heimatstadt Hamburg gebummelt?
Obwohl ich nur ein paar Minuten von der Hamburger Innenstadt entfernt wohne, war ich dort seit Jahren nicht mehr einkaufen. Warum auch? Es macht mir keinen Spaß, das Gefühl zu bekommen, nicht erwünscht zu sein. Denn weder die großen Modemarken wie Zara und Other Stories haben etwas im Sortiment, das mir passen würde, noch werde ich im Alsterhaus fündig. Bei L oder XL ist oft schon Schluss. Aus diesem Grund bestelle ich fast alles online. Immer öfter höre ich auch von befreundeten Müttern, dass selbst Kinder unter dem Größendruck leiden. Das müssen Sie erklären.
Bei Kindern ist es besonders schwierig, da die Kleidergröße anhand der Körpergröße bestimmt wird. Als ob alle 116 cm großen Kinder exakt die gleiche Körperform hätten. Dazu kommt die Unterscheidung von Mädchen- und Jungsbekleidung, die Sachen für Mädchen sind oft deutlich schmaler geschnitten als die für Jungs. Dabei unterscheiden sich die Körper bis zur Pubertät kaum. Auch hier sieht man den Einfluss des vorherrschenden Schlankheitsideals, das bereits für junge Mädchen gilt. So wird den Kids schon früh beigebracht, dass wir in einem System leben, das Körper unterschiedlich bewertet.Auch die italienische Teenager-Marke Subdued setzt auf kleine Größen. Ihr Größenspiegel endet sogar bei M. Welche Folgen sehen Sie darin?
Das ist ein fatales Signal, weil es unmissverständlich klar macht, dass Mädchen einer bestimmten Kleidergröße dort nicht erwünscht sind. Vor allem Teenager orientieren sich an ihrer Peer-Group und möchten genau das anziehen, was gerade angesagt ist, um dazuzugehören. Jugendliche, die nicht in die wenigen kleinen Größen passen, werden von Subdued bewusst ausgeschlossen. Dieses Größenregime ist ja kein Zufall. Die Marke hat sich bewusst dazu entschieden, keine Kleidung für große oder dickere Teenager herzustellen. Was ja schon ein ziemliches Statement ist. So wird jugendlichen Mädchen indirekt signalisiert, dass sie eine bestimmte Körperform haben müssen, wenn sie diese Marke tragen und zu den trendy Girls gehören wollen.Mag es bunt: Melodie Michelberger in einem Sommerkleid vor der Hamburger Elbphilharmonie
© Julia Maria WernerDas Vorgehen erinnert an den Skandal um den ehemaligen Abercrombie & Fitch-Chef Mike Jeffries, der einst sagte: „Wir wollen unsere Sachen an gutaussehende, coole Leute verkaufen.” Ein Satz, der das glänzende Image der Marke ruinierte…
Ja, man könnte meinen, bei Subdued hätte man noch nie von Abercrombie & Fitch gehört. Tatsächlich ist die Verkaufsmasche die gleiche. Auch die italienische Marke will nur eine sehr dünne Zielgruppe an sich binden und alle anderen ausgrenzen. Das zeigt sie auch bei Instagram. Hier werden Post von jungen Mädchen in teils sehr knappen Subdued-Outfits gezeigt. Unter den Bildern steht dann #subduedgirls, der Hashtag fürs Community-Gefühl. Wozu kann das führen?
Das Teenager-Dasein ist ein schwieriges Alter, vor allem, wenn man Gefahr läuft, an einer Essstörung zu erkranken. Vor einiger Zeit besuchte ich eine sehr informative Panel-Veranstaltung zu den Versorgungs-Perspektiven von betroffenen Patienten in Hamburg. Eingeladen hatte das Hamburger Essstörungszentrum Waage e. V.. Ein Vertreter der DAK stellte dort den Kinder- und Jugendreport vor. Demnach haben Essstörungen bei 15- bis 17-jährigen Mädchen zwischen den Jahren 2019 bis 2021 um 54 Prozent zugenommen haben. Das ist eine alarmierend hohe Zahl. Als Gründe wurden neben der Pandemie unrealistische Körperideale in Medien und Werbung genannt, ebenso die vermeintliche Makellosigkeit auf Social Media-Plattformen.Welche Verantwortung trägt die Mode?
Natürlich kann man nicht sagen, dass man wegen eines zu engen Kleidungsstücks sofort magersüchtig wird. Aber die Mode-Industrie ist Teil des Problems. Sie hält an einem längst veralteten Schönheitsideal fest und bestimmt nach wie vor, was wir gemeinhin als schön empfinden. Dabei entsprechen nur sehr wenige Frauen weltweit dieser Idealvorstellung und sind von Natur aus groß und sehr dünn. Doch die Mode-und Beauty-Industrie klammert sich seit Jahrzehnten an diese fettfreie Idealfrau. Sie verkauft uns nicht nur den neuesten Lippenstift, sondern auch ein Lebensgefühl. Zum Glück bekommt dieses einschränkende Körperideal Risse und ich hoffe, wir bringen es endgültig zum Einsturz. Damit sich in Zukunft mehr Frauen und Mädchen in ihren Körpern wohlfühlen können.Was muss sich verändern?
Viele Hersteller könnten sich ein Beispiel an Marken wie Ganni oder Rixo nehmen, dort gehen die Größen zwar auch nur bis 52/54, aber das ist ein guter Start und macht mir Hoffnung auf mehr. Plus Size-Mode sollte als Chance für mehr Inklusivität verstanden werden. Die nicht nur den Kundinnen zugutekommt, sondern auch den Modemarken. Wer kann in Zeiten rückläufigen Konsums schon eine neue Zielgruppe ausschlagen?
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Author : Cathrin Wißmann
Publish date : 2023-12-17 16:49:00
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